Am Samstag, den 27. Februar 2010, feierte die Litauische Gemeinschaft im Hüttenfelder Bürgerhaus gleich zwei, historisch eng verbundene Jubiläen: Den 20. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens und das 60-jährige Bestehen des Privaten Litauischen Gymnasiums.
Der Einladung zur Feier im Bürgerhaus waren rund 600 Gäste gefolgt, unter ihnen hochrangige Politiker und regionale Repräsentanten beider Länder. Die Festrede hielt der Kultusminister der Republik Litauen Gintaras Steponavičius und die Direktorin des Litauischen Gymnasiums dr. Bronė Narkevičienė. Das künstlerische Programm wurde von den Schülern des Litauischen Gymnasiums, der Folkloregruppe „Leliumai“ aus Essen-Mülheim und den Kindern der Hüttenfelder und Münchener litauischen Sonntagsschulen dargeboten.
Festrede der Schuldirektorin und einige Einblicke in die Veranstaltung:
„Sehr geehrte Herren Minister, verehrte Botschafter, verehrter Herr Bundestagsabgeordneter, sehr geehrter Herr Kreisbeigeordneter und Herr Bürgermeister, verehrte Gäste, liebe Kollegen und Freunde, heute ist es mir eine große Ehre, über etwas sehr Einzigartiges und Symbolisches zu sprechen. Und zwar über etwas, was nicht nur für Litauer einzigartig und symbolisch ist. Heute werde ich über Werte sprechen. Unvergängliche Werte. Nicht nur für Litauer und Deutsche. Für jeden Menschen. Für uns alle. Lassen Sie mich dies erläutern.
“Vasario 16-oji” – “Der sechszehnte Februar” – das sind Worte, die in dem Herzen eines jeden Litauers bedeutungsgleich sind mit den Wörtern “Freiheit” und “Unabhängigkeit”. Denn an diesem Tag des Jahres 1918 wurde die litauische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Konnte es also anders sein, als dass Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, aber dennoch die Hoffnung auf die Wiedererlangung der Freiheit und der Unabhängigkeit nicht verloren hatten, dem von ihnen gegründeten Gymnasium den Namen der Freiheit und der Unabhängigkeit – den des Sechszehnten Februar – geben? Liest man das erste Jahrbuch des Litauischen Gymnasiums von 1954 so sieht man, dass seine Gründer vor allem eines im Sinn hatten – dass seine Schüler eines Tages mithelfen würden beim Wiederaufbau eines freien und unabhängigen Litauens.
Sechzig Jahre sind eine lange Zeit. Sie reicht sicherlich, um die Bedeutsamkeit einer Schule – wie die eines Menschen – zu bemessen und ihre Auswirkung auf und Bedeutung für das Leben anderer Menschen, Völker und Staaten einzuschätzen. Aus der heutigen Perspektive kann man rückblickend ohne Zweifel behaupten, dass das Leben des Litauischen Gymnasiums besonders wertvoll und deshalb auch besonders erhaltenswert ist.
Zum einen, weil dieses Gymnasium ein lebendiges Denkmal darstellt für die weltweite Solidarität der Litauer untereinander und für ihren unerschütterlichen Glauben an die Wiedererlangung der Freiheit ihrer Heimat.
Hierzu einige Fakten:
1959 in der Stadt Diepholz in Niedersachsen: In einer Wehrmachtkaserne gründen die Litauer ein Gymnasium für ihre Kinder, in dem nach dem deutschen Schulprogramm unterrichtet wird, mit einem Ergänzungsangebot in litauischer Sprache.
1953: Da die ehemalige Kaserne an die Bundeswehr zurückgegeben werden muss, sucht Pfarrer Bernatonis von der litauischen Seelsorge nach einer neuen Bleibe für die Schule. In Hüttenfeld wird er fündig. Die Litauische Gemeinschaft in Deutschland schließt einen Kaufvertrag für das Schloss Rennhof samt 5 Hektar Gelände für 150 000 Mark ab. Innerhalb von sechs Jahren sammeln Litauer in der ganzen Welt das nötige Geld zusammen. Nur 30 000 Mark müssen von der Bank geliehen werden.
Das Litauische Hilfswerk in den USA, die Litauische Stiftung in den USA, die Kanadisch-Litauische Stiftung, Sugintas, Kuolas, Antanaitis, Bogutienė, Augulis, Beleckas, Vizbaras… aberhunderte von Namen und Unterstützungsgruppen einzig und allein zu dem Zweck, dass junge Kinder litauischer Herkunft bei uns lernen und später studieren könnten, dass sie die Sprache ihrer Eltern und ihre kulturelle Identität aufrechterhalten könnten. Das war und ist ein Beleg für die Einheit und die Solidarität der Litauer und für ihren Glauben an die Freiheit. In den Nachkriegsjahren gab es in Deutschland, den USA und vielen anderen westlichen Ländern hunderte von Unterstützungsgruppen, die sich jeweils vorgenommen hatten ein einziges Kind finanziell zu unterstützen, damit es hier am Litauischen Gymnasium lernen und sein Abitur machen könnte. Sie ließen das von Ihnen betreute Kind auch dann nicht im Stich, als sie selbst kaum noch Geld zum Überleben hatten.
Von 1953 bis 1960 überlebte das Litauische Gymnasium ausschließlich durch Spenden von Litauern aus den USA, Kanada, der Schweiz und Deutschland, Zuschüsse verschiedener Stiftungen und Hinterlassenschaften.
1988/1989: Unter der Führung von Prof. Vytautas Landsbergis ist in Litauen die Reformbewegung „Sajudis“ geboren. Die Hoffnungen aller Litauer in der Welt, die sich auch in ihrer jahrzehntelangen Unterstützung des Litauischen Gymnasiums zum Ausdruck gebracht wurde, wurde erfüllt. Im Hüttenfelder Schloss Rennhof wurde ein Informations- und Koodinierungszentrum eingerichtet, um der Reformbewegung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Mitgeholfen haben zahlreiche Gemeinschaftsmitglieder, viele Lehrer, Schüler und Ehemalige. Auch heute sitzen Menschen bescheiden in diesem Saal, die geholfen haben, „Sajudis“ mit den nötigsten Mitteln – wie etwa Computer oder Kopiergeräte – zu versorgen. Von Hüttenfeld aus wurden auch die ersten Auslandsreisen von Prof. Landsbergis organisiert.
Meine Damen und Herren, liebe und verehrte Gäste – das Litauische Gymnasium ist aber viel mehr. Es ist nämlich auch ein lebendiger Beweis für die bürgerliche und moralische Reife Deutschlands.
Hierzu ebenfalls einige Fakten:
1950: Das Land Niedersachsen gewährt dem Litauischen Gymnasium einen Zuschuss, der die Gehälter von vier Lehrern abdeckt.
Von 1960 bis 1999 bekommt das nun in Hüttenfeld ansässige Litauische Gymnasium finanzielle Unterstützung im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes.
Im Jahre 1999 erhält das Private Litauische Gymnasium die staatliche Anerkennung des Landes Hessen, und dessen Betrieb wird ab dem Zeitpunkt zu einem nicht unerheblichen Teil durch das Hessische Kultusministerium finanziert.
Nur in einem freien und demokratischen Land ist es möglich gewesen, dass Kinder litauischer Herkunft aus den USA, Kanada, Deutschland, Argentinien, Australien, Brasilien, der Dominikanischen Republik, England, Frankreich, Israel, Mali, Polen, der Schweiz, Uruguay, und später auch aus Litauen und Russland, die Gelegenheit erhalten, die einzige litauische weiterführende Schule im Westen zu besuchen.
Das Litauische Gymnasium ist aber auch ein Beleg dafür, dass die katholische Kirche in Deutschland bereit ist, die Vermittlung christlicher Werte tatkräftig zu unterstützen:
Von 1971 bis 2005 hat das Erzbistum Mainz die Ausgaben von mehr als einem Lehrergehalt großzügig übernommen.
Der 11. März 1990…
Litauen hat seine Unabhängigkeit wiedererlangt. Die Freiheit, nach der so viele überall auf der Welt lebende Litauer gestrebt haben, wird Realität. Das originäre Ziel des 1950 gegründeten Litauischen Gymnasiums wurde gewissermaßen erreicht. Doch ihr Leben erhielt auf einmal einen neuen Sinn, denn Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständliche Werte, die ein Mensch, ein Volk oder sogar ein Staat sich einfach aneignen kann. Es sind Werte, in deren Geiste Menschen erzogen werden müssen, die in einem Menschen heranreifen müssen, und für die – wie die Geschichte uns zeigt – manchmal auch gekämpft werden muss.
Heute ist unser Gymnasium also ein Ort, wo Menschen geflügelte Worte wie „europäische Integration“, „Toleranz“, „Respekt vor Andersdenkenden“, „Ehrenamt“ und „Unterstützung“ mit Leben erfüllen.
Auch hierfür einige Beispiele:
Im Schloss Rennhof finden zahlreiche Treffen und Projekte litauischer und deutscher Politiker, Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer statt – ein vortreffliches Beispiel für die junge Generation.
Die Projekte unseres Gymnasiums werden entweder finanziell oder aber durch den ehrenamtlichen Einsatz von unzähligen Litauern und Deutschen unterstützt: Parlamentsabgeordneten, Honorarkonsulen, amtierenden und ehemaligen Kultusministern, Ministerialbeamten, Wissenschaftlern, Eltern, Mitgliedern der Litauischen Gemeinschaft in Deutschland und in der ganzen Welt.
Heute ist unser Gymnasium ein Ort, wo eine neue Generation von Europäern heranwächst. Bürger eines künftigen Europas, die sich das, was Europa ausmacht, nicht in Büchern oder in Erzählungen angeeignet haben werden, sondern durch ihre persönliche und alltägliche Erfahrung.
Heute ist unser Gymnasium eine Chance für uns alle. Eine Chance, den Wert der eigenen kulturellen Identität zu erkennen und zugleich zur Schaffung eines multikulturellen, sicheren und vereinten Europas aktiv beizutragen.
Fangen wir mit der Zusammenarbeit zweier Länder an – sowohl in der Bildung, wie auch im kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich. Fangen wir an bei der Vermittlung christlicher Grundwerte – dafür haben wir ja fast 200 junge, aufnahmefähige Geister und offene Herzen. Von uns hängt es ab, ob diese jungen Menschen den Willen und das Können haben werden, gemeinsame deutsch-litauische Unternehmen zu gründen und deutsch-litauische kulturelle, soziale und wissenschaftliche Projekte zu realisieren.
Verpassen wir diese Chance nicht.“
27. Februar 2010